Existenzen und andere Abgründe
Originaltitel Daihakkutsu, 大発掘 erschienen 2003 beim Verlag Seirinkogeisha
von Yoshihiro Tatsumi
Wie beginnt man üblicherweise mit einer Rezension zu einem Werk von Yoshihiro Tatsumi, ähnlich wahrscheinlich, wie man mit einer Biographie von Tatsumi-sensei beginnen würde:
Hier haben wir das erste ins Deutsche übersetzte Werk des Gründervaters der Gekiga-Mangabewegung.
Gekiga 劇画, oder auch dramatische Bilder, sind in vielerlei Ansicht die Vorläufer des heute gebräuchlicheren Begriffs "Seinen".
Eine im Japan der fünfziger Jahren durch Yoshihiro Tatsumi und zeitgenössischen Kollegen wie Masahiko Matsumoto oder Takao Saitō entstandende Stilrichtung, die sich mit ernsten, häufig düsteren, rohen Geschichten an männliche ältere Leser richtete, die Alternativen suchten, zu den meist kindgerechteren Werken, die unter dem inzwischen fast schon stigmatisierten Begriff Manga veröffentlicht wurden.
Es war für mich ungeheuer erfreulich zu erleben, dass Daihakkutsu (deutsch etwa "Große Entdeckungen") unter dem Titel "Existenzen und andere Abgründe" vollständig in deutsch unter dem Carlsen Graphic Novel-Label veröffentlicht wurde. Die Veröffentlichung entspricht inhaltlich der japanischen Ausgabe, jedoch erschien der Titel wie alle unter dem Graphic Novel-Label veröffentlichten Werke von Carlsen in einer westlichen Leserichtung.
Die Kurzgeschichtensammlung greift dabei dreizehn Geschichten aus dem umfangreichen Schaffenswerk Tatsumis heraus, fügt ein lesenswertes Vorwort von Stefan Pannor bei, ein interessantes (und in einigen Fällen auch notwendiges) Glossar sowie ein kurzes Nachwort von Tatsumi selbst. In ansprechender Aufmachung und samt Klappenbroschur ist der Band noch immer für 19,90 € im Handel erhältlich.
Inhalt
Der Aufhänger des gut 320-seitigen Werks ist die Kurzgeschichte "Die Hölle", angesiedelt kurz nach dem Einschlag der Atombombe in Hiroshima im August 1945. Ein Kriegsfotograf wandelt durch die Trümmer der Stadt, schrecklich entstellte Gestalten, tot wie lebendig, die ihm dabei den Weg kreuzen, zeugen von der erschreckenden Zerstörungswut dieser der Welt bisher unbekannten Waffe. Inmitten all diesen Staubs und Gestanks verbrannten Fleisches entdeckt der junge Fotograf das Abbild von Silhouetten durch die Hitze in eine Wand gebrannt. Sie zeigt augenscheinlich den Umriss einer knienden Frau und den eines jungen Mannes der hinter ihr steht und ihr hingebungsvoll den Rücken massiert, vielleicht ein intimer Moment zwischen Mutter und Sohn, als genau in jenem Moment hungrige Hitze beide auslöschte und nur diese Momentaufnahme der Nachwelt hinterließ.
Der Fotograf ist fasziniert und gerührt, somit hält er die Szene fest. Eine für ihn lohnenswerte Entscheidung, den als das Bild publik wird, reißt es die Menschen des Nachkriegsjapan mit und der Fotograf wird berühmt.
Doch langsam wird ihm klar, dass dieses Foto, dem er seinen ganzen Ruhm zu verdanken hat, das Millionen vom Krieg Zerütteter, die mit dieser Szene mitfühlten und dadurch den dahinter stehenden Gräuel des Krieges bewusst wurden, das eben jenes Foto ganz und gar nicht eine solch herzergreifende Szene darstellt, für die der Fotograf sie einst hielt.
Nicht nur, dass ihn nun ein moralisches Dilemma heimsucht, es scheint, als werde ihm die Entscheidung die Wahrheit über das Bild zu offenbaren plötzlich von anderer Seite aus abgenommen.
Es bleibt lediglich zu sagen, dass die Geschichte äußerst düster, ganz im Sinne von Tatsumis Gekiga-Gedanken endet.
Diese Geschichte umfasst 30 Seiten und auch die anderen in dem Werk enthaltenen Geschichten entsprechen der Länge von 20 bis 30 Seiten.
Sie alle beschäftigten sich mit Existenzen, die am Rande der Gesellschaft, am Rande der eigenen Moral agieren. Sei es eine skrupellose Tante, die verzweifelt versucht den Tod der eigenen Nichte zu vertuschen, zwei Obdachlosen, die an einem Bahnhof in Tokio ihr ärmliches Dasein fristen, ein hochmodernes Hotel spottend stets vor Augen oder das wirklich erschütternde Tagebuch einer Prostituierten während des zweiten Weltkriegs.
Ich möchte nicht zuviel verraten und höre hier auch auf. Es sei nur erwähnt, dass die Geschichten als Ganzes eine wunderbare Milieu-Studie eines Japans zeigen, das man so in den meisten deutschsprachigen Manga nicht wiederfindet. Sei es das Japan in Staub und Trümmern kurz nach dem zweiten Weltkrieg, das Tatsumi meiner Meinung nach ganz meisterhaft wiedergibt (wie er alles heruntergekommene großartig wiedergibt...) oder die beängstigende Annonymität des aufsteigenden Tokios der 70er Jahre, das sich rigoros im alles verschlingenden, modernisierenden Wachstum befindet und dabei nicht auf die einzelne Existenz achtet.
Gekiga ist nichts für Zartbesaitete, insbesondere nicht die Kurzgeschichten von Tatsumi. Er schreckt nicht davor zurück, die Dinge bildhaft und detailliert zu zeigen, ganz getreu dem Motto des Gekiga, die Dramatik in Bildern festzuhalten. Dabei hält er seine Werke stets überhalb der Geschmacksgrenze - das sage ich, obwohl in diesen Geschichten ein Mann unter anderem seine animalische Liebe zu einem Affen entdeckt, eine Frau eigennützigen Sex mit einem geistig zurückgebliebenen Jungen hat oder der Leser die erschütternde Entdeckung eines toten Babys in einem Schließfach machen muss. Das alles mag reißerisch klingen und vielleicht ist es das auch, hin und wieder auch sicherlich selbstzweckhaft, um eben zu schockieren, aber trotzdem behält das Werk dabei stets eine hohe künstlerische Qualität und vermittelt ein Bild einer damals zum Teil zügellosen Leserschaft, die sich nach eben solchen Tabubrüchen (von denen es in dieser Zeit durch Tatsumi und auch durch andere Autoren noch weitaus schlimmere gibt) sehnten, die in den fünfziger Jahren mit Manga begonnen und nun, zwanzig, dreißig Jahre später mit ihren Manga altern wollten. Und eben jenes Produkt stellten unter anderem Tatsumis Gekiga-Geschichten dar.
Zeichenstil
Der Zeichenstil von Tatsumi entspricht dem realistischen, schmucklosen Zeichenstil den viele Manga jener Jahrzehnte inne haben. Saubere Strichführung, klare Teilung der Panels und mit einem Fokus auf den Personen. Sofern jedoch Landschaftsbilder oder größere Hintergründe gezeigt werden, sind diese detailliert ausgearbeitet. Ein großes Lob an den Künstler für die Fähigkeit die Masse gegen den Einzelnen als wiederkehrendes Thema in seinen Geschichten deutlich bildhaft zu machen. Das Individuum ist ein Fisch unter vielen anderen Fischen und unterscheidet sich weder in seiner Handlungsweise noch in seinem meist nüchternen Ende. Tatsumis Protagonisten in den einzelnen Segmenten unterscheiden sich äußerlich und charakterlich nicht besonders voneinander, sie stechen nicht heraus, wirken fahl, ausgezehrt und hilflos. Sie dienen als Werkzeuge, um die Außenwelt in all ihrer Grausamkeit und moralischen Ambivalenz zu zeigen, hin und wieder jedoch nehmen die Protagonisten in den Geschichten auch aktivere Rollen ein, dann meist groteske oder ebenso amoralische.
Die Zeichnungen schrecken wie oben bereits erwähnt weder vor Gewalt noch vor Sex zurück, ungeschönt und oft grausam, dennoch in einem noch immer geschmackvollen Gewand. Alles wird kommentarlos geschildert, die Zeichnungen richten nicht über die Handlung, sondern geben sie schlicht wieder. Es sind erwachsene Zeichnungen, die den Leser einige Jahrzehnte zurückversetzen, in eine Zeit, mit all ihren modischen Eigenheiten, den Frisuren und Einrichtungen der Siebziger. Und den uns auch heute noch bekannten Versagern der Gesellschaft.
Fazit
Mein Fazit möchte ich hier sehr kurz halten.
Oftmals ein Schlag in die Magengegend, Gesellschaftskritik mit Pulp versetzt und ein noch immer erschreckender Spiegel unserer heutigen Gesellschaft. Existenzen und andere Abgründe, eigentlich ein toller Titel von Carlsen, dem man zynischerweise nur noch durch den französischen Titel der Anthologie "L'enfer", titelgebend hier obige erste Geschichte des Sammelbandes, Vorrang geben mag. Es ist oft höllisch, höllisch grausam, höllisch reißerisch, höllisch realistisch was uns Tatsumi hier vorsetzt. Und vielleicht ist es deswegen auch so höllisch interessant.
Ich bin froh und dankbar, dass Carlsen sich trotz eher bescheidener Verkaufszahlen dazu entschlossen hat, auch die zweite Kurzgeschichtensammlung "Daihakken" (deutsch "Geliebter Affe und andere Offenbarungen") zu veröffentlichen und besonders herausgestellt sei in diesem Atemzug auch noch Tatsumis Magnum Opus "Gekiga Hyōryū" (deutsch "Gegen den Strom"), welches in einer wunderschönen Hardcover-Variante erschienen ist.
Ich würde beide Werke gerne in Zukunft rezensieren, da ich beide bereits gelesen habe und während "Geliebter Affe und andere Offenbarungen" mehr von dem bereithält, was uns "Existenzen und andere Abgründe" bereits präsentiert, ist "Gegen den Strom" eine autobiographische Ode an Gekiga mit all seinen Auf und Abs in seiner Entstehungs- und Wachstumsphase.
In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal Drawn and Quarterly erwähnt, ein wunderbares kanadisches Verlagshaus, das sich Tatsumi annahm und einige seiner besonders kurzen Geschichten (in der Länge von acht bis sechzehn Seiten) sowie eine Handvoll aus den bereits auf deutsch vorliegenden Sammelbänden in drei Kurzgeschichten-Anthologien veröffentlichte. Auch diese würde ich gerne zu einem späteren Zeitpunkt einmal vorstellen, da einige dieser Geschichten bisher in keinem anderen Land (außerhalb der ursprünglichen japanischen Magazinveröffentlichung) in dieser Form eines Sammelbandes erschienen sind und es äußerst bedauerlich wäre, wenn Tatsumis morbide Kurzgeschichten aus den sechziger und siebziger Jahren für immer in den Gedächtnissen einiger weniger verstauben würde.
Ich hoffe das ich euch Yoshihiro Tatsumi, einen im Westen leider noch viel zu wenig beachteten, wenn auch in den letzten Jahren weitaus bekannter gewordenen Künstler näher bringen konnte. Der für viele hohe Preis mag auf den ersten Blick abschrecken, das kann ich verstehen, doch ist es die Investition meiner Meinung nach Wert. Es lädt ein, Manga (oder Gekiga) einer anderen Zeit, mit einem gänzlich anderen Verständnis zu lesen, aus der Feder eines Mannes, der Manga, wenn auch unter anderer Bezeichnung, unaufhörlich als ein Erzählmedium aller Altersgruppen und geeignet für alle Themen förderte und voranbrachte.
Yoshihiro Tatsumi wurde am 10 Juni 1935 in Osaka geboren und arbeitet derzeit an einer Fortsetzung zu "Gegen den Strom - Eine Autobiographie in Bildern".
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