Kokkoku (dt. etwa "
Moment für Moment") von Horio Seita
erschienen beim Verlag Kōdansha
abgeschlossen in 8 Bänden
Erscheinungsjahr: 2009
Inhaltsangabe:
Die 28-jährige Yukawa Juri lebt in einem Viergenerationenhaushalt. Auf der einen Seite gibt es da ihre Mutter und ihre ältere Schwester (samt Sohn Makoto), die hart für den Lebensunterhalt der Familie arbeiten müssen, auf der anderen Seite sind da noch ihr älterer Bruder Tsubasa, ihr Vater Takafumi und ihr pensionierter Großvater, die mit zu viel Freizeit planlos in den Tag hineinleben.
Als laste so nicht schon genug Druck auf dem Familiengebilde, geschieht eines Tages etwas Unvorstellbares, dass Juris Alltag völlig aus den Fugen hebt. Ihr großer Bruder und der kleine Neffe werden entführt. Die Entführer setzen der restlichen Familie eine Abgabefrist für das Lösegeld, die kaum eine halbe Stunde umfasst. Unmöglich für die aufgebrachte Juri, in dieser kurzen Zeit die Polizei zu verständigen! Verzweifelt und ohne Optionen will sich die junge Frau selbst aufmachen, die Entführten zu befreien, doch dann hält ihr Großvater sie auf.
Ohne große Erklärungen offenbart er ihr und Juris Vater das Familiengeheimnis der Yukawas: ein Stein, der es ermöglicht, die Zeit anzuhalten. Mithilfe dieses Steines schaffen es die drei in einer regungslosen, erstarrten Welt bis zu den Entführern, doch dort werden sie schlagartig von Fremden brutal angegriffen. Wer nur sind diese mysteriösen Männer, die es vermögen, sich in einer Welt zu bewegen, in der alles Lebendige doch eingefroren sein sollte? Plötzlich taucht inmitten dieses Chaos auch noch ein deformiertes Ungeheuer auf...
Kurze Anmerkung:
Die Geschichte ist anfangs zugegeben etwas undurchsichtig, sofort zu Beginn ahnt man aber schon, dass der Künstler hier eine große Palette zur Verfügung hat, die Prämisse des Zeiteinfrierens interessant zu erzählen. Aber Schritt für Schritt, was gefällt mir besonders gut?
Da ist einmal die sehr nüchterne, distanzierte Erzählweise. Beispielsweise gibt es in den späteren Bänden eine wahnsinnig eindringliche und für mich aufwühlende Szene, in der über mehrere Seiten kaum ein Wort gesprochen wird, ein Kampf auf Leben und Tod mit einem Handtuch als Waffe. Es wird nur mit der Bildsprache gearbeitet, Emotionen rüberzubringen, fast so als wird hier stumm ein Naturspektakel gefilmt. Horio schafft es, dieses Familiendrama insgesamt dennoch so mitreissend in Szene zu setzen, dass trotz des unterkühlten Erzähltons genug Spannung aufkommt, so dass man die acht Bände unversehens schnell durchgelesen hat.
Die Geschichte ist komplex, die Regeln, die für die "eingefrorene Zeit" gelten, sind anfangs nicht ganz klar, denn möglich scheint alles. Selbst Teleportation. Später spielen sich verschiedene Gruppen gegenseitig aus, versuchen die Zeitsteine für sich zu gewinnen. Alles bleibt auch lange unklar und wird nur langsam aufgelöst. Über allem schwebt der bedrohliche Ton der entstellten "Ungeheuer", die als Aufseher über die "eingefrorene Zeit" wachen und bei zu viel "Aufruhr" für Ordnung sorgen. Es muss nicht erwähnt werden, dass das sehr grob und blutig geschieht. Alles in allem ist es ein sehr fantasievolles Szenario, dass viele Möglichkeiten birgt, die Spannung rund um das Zeiteinfrieren aufrecht zu erhalten. Da hilft auch sehr, dass Horio nicht "altbacken" und "lustlos" erzählt: Die Geschichte beginnt mit einer Juri im Grundschulalter, die den Tod ihres Hundes beweint, ein Traum? Eine Erinnerung? Diese kurze Szene ist sehr kreativ und schön in Szene gesetzt, damit hatte mich der Titel direkt gepackt. Wer will kann sie sich in der unten verlinkten Leseprobe einmal selbst ansehen.
Ich mag außerdem, dass Juri als starker weiblicher Hauptcharakter in Szene gesetzt wird. Als sie von der Entführung erfährt, beispielsweise, sammelt sie entschlossen, wenn auch etwas überstürzt, ein Küchenmesser im Haus, um nötigenfalls selbst für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie weiß sich in mehreren Punkten in der Geschichte selbst zu wehren, muss nicht gerettet werden. Und zimperlich ist in diesem Titel wirklich kein Charakter. Das Blut fließt, wenn es muss, das Ganze unterstützt die kühle Erzählweise darin, trotz des Sci-Fi-Aspekts der Geschichte, eine gewisse Bodenständigkeit beizubehalten. Die Charaktere sind zwar etwas unnahbar aber glaubwürdig und wirken bedrohlich.
Noch etwas Trivia zu dem Titel. Der prestigeträchtige Manga Taishō Award hat den Titel 2011 neben u. a. Mori Kaorus
Otoyomegatari oder Umino Chicas
Sangatsu no Lion nominiert. Das sollte nicht das letzte Mal für den Künstler Horio Seita sein, denn in diesem Jahr hat das Folgewerk "
Golden Gold" (über das ich bereits an anderer Stelle sprach) ebenfalls eine Nominierung erhalten und zeigt, hoffe ich, dass es bereits einige Menschen gibt, die von der künstlerischen Qualität des Künstlers überzeugt werden konnten.
Der englische Verlag Kodansha USA bringt seit diesem Monat auch eine englischsprachige Ausgabe unter dem Titel
"Kokkoku: Moment by Moment" digital heraus. Das sicherlich in wissender Antizipation der Anime-Umsetzung. Ansonsten gibt es, wie einleitend gesagt, auch eine Ausgabe bei Glénat in Frankreich. Eine deutsche Ausgabe kann ich mir persönlich sehr gut in einem der Folgeprogramme vorstellen, das Zeit-Thema ist spannend, fantasievoll und universell erzählt, der Zeichenstil ist sehr detailliert und auch in der Figurengestaltung für den europäischen Lesergeschmack sicher akzeptabel ästhetisch, die Länge ist überschaubar und passt bspw. bei Carlsen optisch und thematisch auch gut in die editoriale Linie. Hinzu kommt der zu erwartende Rückenwind der Anime-Umsetzung, der diesem bereits zu den Akten gelegten Werk neuen Lebenssaft verleihen sollte. Ich freue mich sehr darüber und hoffe, möglichst viele Menschen können diese spannende Geschichte in welcher Form und in welcher Sprache auch immer, für sich entdecken.
Leseprobe zu Kokkoku von Seita Horio, Verlag Kōdansha
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