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Die Reise der kleinen Chihiro ins Zauberland
"Spirited Away" - ein zauberhafter Zeichentrickfilm von Hayao Miyazaki
Es war durchaus eine kleine Sensation, als letztes Jahr der Hauptpreis eines der grossen internationalen Filmfestivals, der Goldene Bär der Berliner Filmfestspiele, an einen Zeichentrickfilm ging. Und soeben ist "Chihiros Reise ins Zauberland" (Sen to chihiro no kamikakushi) nun auch noch mit dem Oscar für den besten Animationsfilm ausgezeichnet worden: längst fällige Ehrungen für Hayao Miyazaki, der etwa mit "Mein Nachbar Totoro" (1988) oder "Prinzessin Mononoke" (1997) bereits Welterfolge gefeiert hat und einer der erfolgreichsten Regisseure ist - auch kommerziell: "Spirited Away" allein hat bereits an die dreihundert Millionen Dollar eingespielt.
Während sich in Japan und besonders in den USA die Kunst der Animation immer stärker entlang der steigenden Taktfrequenz der Prozessoren entwickelt, um dreidimensionalen Wesen täuschend authentisches Leben einzuhauchen, und auf der anderen Seite auch der konventionelle Spielfilm zunehmend süchtiger nach CGI (computer generated images) wird, so dass sich die Trennung zwischen animiertem und fotorealistischem Film mittlerweile verflüssigt hat, gehört Miyazaki zu den Animatoren, die sich noch auf traditionelle Zeichenkunst stützen. Natürlich hat auch in sein Animationsstudio Ghibli allerneuste Technik Einzug gehalten; "Spirited Away" kommt als erster Film in einem digitalen Format in den Verleih. Doch das meiste wird noch von Hand gezeichnet - grösstenteils vom Meister selbst. Erst später wird das Bild digitalisiert und kommen Spezialeffekte aus dem Computer hinzu. So erstaunt hier nicht die perfekte Illusion aus der digitalen Retorte, sondern die Mischung aus kindlicher Phantasie und präzisen Wertvorstellungen, die zügellose Fabulierkunst und die gewaltige Lebhaftigkeit der Figuren.
In klassischer Märchenstruktur beginnt alles damit, dass sich Chihiro und ihre Eltern im Wald verlieren und plötzlich vor einem geheimnisvollen Tunnel stehen. Trotz dem Widerstand des etwas verängstigten Mädchens gelangt die Familie auf die andere Seite, wo sie einen verlassenen Vergnügungspark vorfinden, wie die Eltern meinen, die sich gierig auf die Auslagen eines noch offenen Restaurants stürzen, während Chihiro die sonderbare Siedlung erkundet. Bei ihrer Rückkehr haben sich die Eltern in fressende Schweine verwandelt, und bald wird ihr bewusst, dass sie sich in einer fremden Welt befindet, aus der es kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Nachts bevölkert eine Unzahl von Göttern, Geistern, Hexen und anderen Fabelwesen den Ort, in dessen Zentrum ein riesiges, mehrstöckiges Badehaus steht. Dort regiert zwar die schrille, vordergründig boshafte und etwas in die Jahre gekommene Hexe Yubaba (in der deutschen Synchronfassung von Nina Hagen gesprochen), dort arbeitet aber auch der gutmütige achtarmige Kamaji, zuständig für die Erhitzung des Wassers und die Sonderwünsche der Gäste hinsichtlich edelster Badezusätze.
Manche Wesen sind komplex und befinden sich in ständiger Metamorphose, andere reduzieren sich fast auf Strichmännchen, wie die kleinen Kohlenträger, putzige schwarze Krümel, die einem dank ihren begrenzten Ausdrucksmitteln schnell ans Herz wachsen. Im Zentrum aber steht Chihiro. Ihre Bemühungen, die Eltern zu befreien und in das alte Leben zurückzukehren, verlaufen in unendlichen Mäandern, einem Parcours voller Gefahren und Überraschungen, Helfer und Gegenspieler. Mit dem Blick fürs Gute und der Intuition fürs Richtige überwindet die tapfere ängstliche kleine Person mit den dünnen Beinchen schliesslich alle Hindernisse.
Vielfältig sind die Bezüge. Für die amerikanische Filmkritik etwa ist die Nähe zu "Alice in Wonderland" oder "The Wizard of Oz" unübersehbar. Auch "Die unendliche Geschichte" und sogar "Metropolis" meinen wir erkannt zu haben. Exotischer muten uns die japanischen Wurzeln des Stoffs an. Das sento, das öffentliche Badehaus, war bis vor wenigen Jahrzehnten eine beliebte Einrichtung japanischer Kultur. Stark verankert ist die Geschichte zudem im Shintoismus. In dieser ursprünglichen und sehr eigentümlichen japanischen Volksreligion herrscht der Glaube, alles in der Welt sei von einer Vielzahl von Göttern (kami) beseelt. Jedem Berg, jedem Fluss, jedem Baum und jedem Tier, ja sogar jedem von Menschen geschaffenen Gebäude oder Weg wohnt danach ein kami inne, und genauso vielfältig sind die Rituale der Verehrung, Reinigung oder Beschwörung. Insofern bewegt sich Chihiro hier auf vertrautem Terrain. (Kinos Cinemax, Riffraff in Zürich)
Till Brockmann